Nach der Geburt muss der Mann noch genau zweimal in seinem Leben einen
wärmenden, schützenden Schoss verlassen. Das erstemal, wenn er sein Kinderzimmer
räumt. Das zweitemal, wenn er seine kuschelig-miefige Junggesellen-WG verlässt,
um mit einer Frau zusammenzuleben. Für viele Männer ist dieser Schritt das wahre
Geburtstrauma. Denn die Männer-WG ist ein friedlicher, idyllischer Ort, eine
arkadische Landschaft aus verstreuten Tennissocken, Bundesliga-Stecktabellen,
getrockneten Zimmerpalmen und Sophie-Marceau-Plakaten. Der Schock ist gross,
wenn wir aus diesem Paradies vertrieben werden.
Vielleicht läßt sich die Männer-WG am besten anhand ihres spirituellen
Mittelpunktes erklären. Es ist der Bierkasten. Oder, richtiger: Die Kästen Bier.
Ganz egal, ob aus diesem getrunken wird, oder nicht - es geht immer darum,
"einen Kasten Bier im Haus zu haben". Dieser Kasten Bier ist der augenfällige
Beweis einer grundehrlichen, geradezu bauarbeiterhaften Bodenständigkeit, die
wir uns trotz unserer lahmen Schlipsträger-Jobs bewahrt haben. Ein Mann braucht
einen Bierkasten, um einem anderen Mann seine Zuneigung auszudrücken: "Komm doch
mal vorbei, wir haben auch `n Kasten Bier im Haus."
Der Kasten dient ausserdem als Legitimation aller möglichen Aktivitäten, die
ohne ihn ziellos, ja läppisch erscheinen würden: "Dann trommeln wir ein paar
Leute zusammen, schnappen uns einen Ball, gehen in den Park, und wir bringen
einen Kasten Bier mit." Zum Kasten Bier gehören in der Männer-WG zahlreiche
Rituale, etwa das, keinen Flaschenöffner zu haben, um die Flasche wortlos
mittels Feuerzeug, Rohrzange, Tischkante oder am Kasten selbst zu öffnen - wobei
die letzte Variante sicher die schönste ist, der Kasten Bier als vollkommenes
geschlossenes System. Kein Wunder übrigens, dass man Männer, die lange in
Männer-WGs gelebt haben, oft an einer kronkorkenförmigen Narbe unter der
Fusssohle erkennt.
Mit dem Kasten Bier, dessen Bedeutung gar nicht zu überschätzen ist, hängt ein
anderes Männer-WG-typisches Phänomen zusammen. Was den Protestanten ihr
Kirchentag, den Ravern ihre Love-Parade, den Telekom-Aktionären ihre
Hauptversammlung, das sind den in WGs organisierten Männern die internationalen
Fussballturniere EM und WM: ein grosses sinnstiftendes Gemeinschaftserlebnis.
Allein das Bewusstsein, dass sich zur selben Zeit Millionen andere genauso mit
Erdnussflips und einem Kasten Bier vor dem Fernseher gemütlich gemacht haben,
schafft jenes quasi-erotische Zusammengehörigkeitsgefühl, das man sonst nur
durch Einnahme von Ecstasy oder die Ausschüttung einer schönen Dividende
erreicht.
Fast so wichtig wie der Kasten Bier ist der blaue Müllsack. Er reduziert nicht
nur die Gänge zum Container auf einen pro Monat, er garantiert auch, dass der
Kontakt zu den Eltern nicht völlig abreisst:
Etwa alle sechs bis acht Wochen schleppen WG-Männer ihre Schmutzwäsche in dem
von innen feucht beschlagenen blauen Müllsack zu Mama. Denn die Männer-WG hat
keine Waschmaschine oder benutzt sie nicht.
Das hat nichts mit Faulheit zu tun, ebensowenig wie die diversen
Sedimentschichten Schmutzgeschirr. Vielmehr kommt es in Männer-WGs zu einer
physikalischen Anomalie von kosmischen Ausmassen: Das Gesetz, dass Energie
nicht verloren gehen kann, wird in jeder Männer-WG tagein, tagaus aufs neue
widerlegt. Energie wird hier spurlos abgesaugt, bis selbst der grösste
Ehrgeizling seine Aktivitäten darauf beschränkt, eine Kuhle in die Fernsehcouch
zu sitzen und ab und zu "machen wir morgen" und "bloss keinen Stress" zu
nuscheln.
Wenn überhaupt, denn nach jahre- langem Zusammenwohnen beschränkt sich die
verbale Kommunikation in der Männer-WG zumeist auf verschiedene Intonationen
des Koseworts "Alter". "Alter" ohne Betonung bedeutet: "Hallo, wie geht's, wie
war dein Tag?" "Alteeer", gedehnt: Ausdruck grosser Begeisterung und Anerkennung,
etwa wenn ein Mitglied der WG Pizza geholt hat. "Alter!", nachdrücklich: Du
stehst im Bild. Man merkt schon, in der Männer-WG herrschen vorzivilisatorische
Zustände. Viele dort praktizierten Verhaltensweisen sind nur als tiefverwurzelter
Aberglaube zu erklären: Nie den Klosettdeckel runterklappen, das bringt Unglück!
Im Stehen pinkeln! Die hinteren Regionen des Kühlschranks sind geschützter
Lebensraum für mutierte Nahrungsmittel und für Menschen tabu! Comic-Lektüre
erleichtert den Stuhlgang! Das heikle Thema Toilettenlektüre hat in diesem
Zusammenhang besondere Beweiskraft: Wir Männer wollen es uns überall so gemütlich
wie möglich machen. Wir werden von einem Nesttrieb gesteuert, wie er in der
Tierwelt kein zweites Mal vorkommt. Wir haben den Schrebergarten, die Eckkneipe
und die Business-Class erfunden, damit wir es überall schön heimelig haben: in
der "Kolonie kleine Zuflucht", in "Lothi's Prapelstübchen", in der
"Executive-Lounge". Und eben in der Männer-WG.
Aus diesem Biotop werden wir jäh herausgerissen, wenn wir zum ersten Mal in
unserem Leben mit einer Frau zusammenziehen. Als unsere Männer-WG von der Faust
der heterosexuellen Anziehung zerschmettert wurde, ereilte alle meine Freunde
dasselbe Schicksal: Frauen, die in das Zusammenleben uns vorher völlig unbekannte
Komponenten hereinbrachten. Vor allem kalte, schneidende Vernunft: "Wieso einen
ganzen Kasten? Das trinken wir doch nie!" Früher kauften wir Lebensmittel
stückweise im Spätkauf der Tankstelle, jetzt bekommen wir Einkaufszettel an die
Hand, die in der Reihenfolge der Warenregale im Verbrauchermarkt geordnet sind.
Vorbei ist es auch mit der geradezu Biolekschen Harmoniesucht, die wir aus der
Männer-WG gewohnt waren. Zum ersten Mal stellen wir fest, dass man Probleme auch
anders lösen kann, als sie vorm Fernseher oder auf dem Klo auszusitzen. Wir
lernen, dass es ausserhalb der Männer-WG nicht zur Versöhnung reicht, dem anderen
ein blutiges Steak zu braten.
Am gravierendsten aber ist das Ende der Gemütlichkeit. In der Männer-WG kamen
Kumpels vorbei ("Habt ihr `n Kasten Bier da?"), heute haben wir Gäste. Wir werden
plötzlich gezwungen, uns Gedanken zu machen über Tischdecken, Menüabfolgen und
Gesprächsstoff, wo früher die Pizza aus dem Karton alle drei Probleme auf einmal
löste ("Mann, ist die Pizza heute wieder schmierig." - "Kannste laut sagen."-
"MANN, IST DIE PIZZA...", usw.). (GROEOEOEOEOEHL!)
Während der Mikrokosmos Männer-WG sich selbst genug ist, geraten wir nun ständig
mit der Aussenwelt in Berührung: mit Theatern, Museen, Einrichtungshäusern und
mit den Müllcontainern hinten auf dem Hof. Erst im Zusammenleben mit einer Frau
werden wir langsam zu funktionstüchtigen Mitgliedern der sozialen Gemeinschaft.
Aber diese Evolution vom Höhlenbewohner zum Homo lebensgefährtiensis ist ein
schmerzhafter Prozess, der uns viele Opfer abverlangt.
Zum Beispiel Kurts Hemden-Trick, der einem das Bügeln ersparte: ein ungebügeltes
Hemd einen Tag lang unter einem Pullover anziehen, so dass es am nächsten Tag
nicht mehr ungebügelt aussieht, sondern so, als sei es gebügelt worden und dann
am Körper zerknittert. Nun kann man das Hemd noch zwei Tage ohne Pullover
anziehen! Wir haben ihn dafür bewundert, Beate hat ihm nahegelegt, einen
Bügelkurs zu belegen.
Frank pflegte seinen Sessel so vor den Fernseher zu schieben, dass er den Fuss
bequem auf den Fernsehtisch auflegen konnte, um mit der nackten Zehe die
Programme zu wechseln und die Lautstärke zu regeln. Eine schöne, körperliche
Form von Interaktivität, eine symbiotische Einheit von Mensch und Medium, die
langen Fernsehabenden eine geradezu metaphysische Qualität verlieh. Karla hat
einfach neue Batterien fur die Fernbedienung gekauft, nachdem sie zusammengezogen
sind.
Vorbei die Zeiten, da wir uns mit dem heissen Eierwasser einen zeit- und
energiesparenden Beuteltee aufgossen. Noch schwerer aber fällt es uns, Nudeln
plötzlich ohne Hilfe der Küchendecke zu kochen. In unserer Männer-WG hatten wir
nämlich einen genialen Trick entwickelt, auf den man in Christiane Herzogs
Kochstudio lange warten kann: Um festzustellen, wann Spaghetti fertig sind,
nimmt man ein paar aus dem Topf und schleudert sie an die Decke. Fallen sie
wieder herunter, so sind sie noch zu hart. Bleiben sie kleben, sind sie genau
richtig.
Buon appetito!